Die Debatte über Künstliche Intelligenz (KI) erreicht zunehmend einen Zustand kollektiver Hyperventilation. Eine häufig gestellte und faszinierende Frage ist, ob KI eines Tages ein eigenes Bewusstsein entwickeln wird. Unternehmen wie Anthropic, Entwickler des Claude‑Chatbots, beschäftigen bereits Forschende, um das „Model Well‑Being“ ihrer Systeme zu untersuchen und die Wahrscheinlichkeit eines künftigen Bewusstseins zu schätzen – sie nennen hier 15 %. Diese Diskussion, so spannend sie ist, lenkt leicht von den wesentlichen, bereits spürbaren Auswirkungen von KI auf unseren Alltag ab. Während wir rätseln, ob Maschinen eine „Seele“ haben, verändert sich die Welt in atemberaubendem Tempo – „schleichend in Lichtgeschwindigkeit“: Die Technik rast, doch gesellschaftliche Wahrnehmung und strategisches Handeln hinken hinterher.
Eine der tiefgreifendsten Folgen des KI‑Einsatzes ist die Veränderung von Berufsprofilen und Kompetenzanforderungen. Generative Modelle können Tätigkeiten in vielen Sektoren teilweise oder vollständig übernehmen; in der Kreativwirtschaft sind Schätzungen zufolge bis zu 50 % aller Aufgaben potenziell automatisierbar. Ajit Singh beziffert den Verlust pro zusätzlichem Automatisierungsprozent im Schnitt auf 15 000 Stellen – genaue Definitionen von ihm bleiben indes leider vage.
Der „Future of Jobs Report 2025“ des World Economic Forum zeigt, dass sich bis 2030 gut 39 % der Kernkompetenzen verändern werden. Technologische Skills wie „KI und Big Data“ gewinnen zwar am schnellsten an Bedeutung, doch zugleich erwarten über 60 % der Arbeitgeber einen wachsenden Bedarf an Fähigkeiten, die traditionell der menschlichen „Seele“ zugeschrieben werden: Resilienz, Kreativität, Selbstbewusstsein, Führung, Empathie, aktives Zuhören. Diese inneren Qualitäten entstehen aus Selbstwahrnehmung, Erinnerung, Imagination und Selbststeuerung – sie lassen sich nicht einfach automatisieren.
Darüber hinaus prognostiziert der Report eine umfassende strukturelle Verschiebung des Arbeitsmarkts: Rund 22 % der heutigen Jobs stehen bis 2030 im Zeichen makroökonomischer Transformation. Insgesamt werden dadurch voraussichtlich 170 Millionen neue Stellen geschaffen (etwa 14 % der aktuellen Beschäftigung), während gleichzeitig 92 Millionen Arbeitsplätze verlagert oder wegfallen (8 %). Unter dem Strich ergibt sich ein Netto‑Plus von 78 Millionen Jobs – knapp 7 % mehr Beschäftigung als heute.
Trotz klarer Daten besteht ein Wahrnehmungskonflikt: Dort, wo objektiv das größte Automatisierungsrisiko droht, wird es häufig unterschätzt – und umgekehrt. Der statistische Zusammenhang zwischen wahrgenommener Bedrohung und tatsächlichem Risiko ist schwach. Das erschwert gezielte Strategien und lässt gerade die am stärksten gefährdeten Gruppen oft ungeschützt.
Entscheidungen über Investitionen, Qualifizierung und Regulierung, die heute getroffen werden, prägen die Ergebnisse von morgen. Ohne passende Entscheidungsrahmen, Anreizstrukturen und Regeln besteht die Gefahr, dass Technologie vor allem den Ersatz menschlicher Arbeit forciert, Ungleichheit vertieft und Arbeitslosigkeit erhöht.
Unternehmen weltweit reagieren unterschiedlich. In Israel planen 80 % der Firmen eine strategische Neuausrichtung, um KI‑gestützte Chancen zu nutzen. Global setzen Arbeitgeber vor allem auf Umschulung und Weiterbildung (77 %), Neueinstellungen für die Entwicklung KI‑basierter Tools (69 %) sowie Talente, die effektiv mit KI zusammenarbeiten können (62 %).
Doch Produktivitätsgewinne realisieren sich nicht von selbst. Eine Studie der Universität Lausanne zeigt, dass viele Beschäftigte – selbst Führungskräfte – die durch KI eingesparte Zeit weder bemerken noch gezielt nutzen. Es braucht bewusste, kontinuierliche Prozesse, um frei werdende Kapazitäten in wertschöpfende, kreative oder persönliche Aktivitäten zu lenken.
Wenn Arbeit künftig stärker auf psychologischen Kompetenzen beruht, reicht es nicht, nur über „Skills“ zu sprechen. Entscheidend sind die mentalen Voraussetzungen, die diese Fähigkeiten überhaupt ermöglichen. Das Modell der inneren Ökonomie beschreibt den Geist als dynamisches Ressourcensystem: Emotionen und Erinnerungen wirken darin wie ökonomische Güter. Wer mental überlastet ist, hat keine Kapazität für Innovation, Selbstregulation oder Empathie.
Unternehmen, die zukunftsfähig bleiben wollen, müssen deshalb eine „mentale Infrastruktur“ schaffen – Räume für Selbstreflexion, kollektive Erinnerung und emotionale Regulation. Gerade Menschen in den am stärksten betroffenen Sektoren brauchen nicht nur technische Weiterbildungen, sondern auch psychologische Unterstützung, um die Transformation aktiv mitzugestalten.
Die Frage nach dem Bewusstsein von KI bleibt faszinierend, ist aber nicht die dringendste. Viel relevanter sind die bereits spürbaren und sich beschleunigenden Veränderungen der Arbeitswelt. Die Verschiebung hin zu psychologisch geprägten Kernkompetenzen, das Erfordernis strategischer Antworten auf Jobverschiebungen und die Herausforderung, Produktivitätsgewinne sinnvoll zu nutzen, verlangen sofortige Aufmerksamkeit.
Es ist vielleicht noch nicht zu spät, doch die Uhr tickt. Eine neue politische und unternehmerische Realität ist nötig, um eine Zukunft zu gestalten, in der Technologie dem Menschen dient – nicht umgekehrt.
Quellen:
Engeler, I. et al. (2024). What Do You Do with the Time Saved by Generative AI Tools? Many Waste It, Managers Included. Working paper.
Prof. Dr. Dr. Oliver Hoffmann. (2024). Die Zukunft der Arbeit ist psychologisch - und kaum jemand spricht darüber. LinkedIn post.
O'Donnell, J. (2025, 28. April). The Algorithm.
Schmidt, H. (Datum unbekannt). KI: Bedrohung für den Arbeitsmarkt wird unterschätzt. faz.net (Frankfurter Allgemeine Zeitung). https://www.faz.net/pro/digitalwirtschaft/kuenstliche-intelligenz/ki-bedrohung-fuer-den-arbeitsmarkt-wird-unterschaetzt-110431298.html.
Singh, A. (2024/2025). Generative AI: Superintelligence with Unprecedented Opportunities and Harrowing Risks. SSRN (Social Science Research Network). https://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=5208276).
The New York Times. (2025, 24. April). The A.I. Conscience: Will Future A.I. Systems Need Human Rights?. https://www.nytimes.com/2025/04/24/technology/ai-welfare-anthropic-claude.html.
World Economic Forum. (2025, Januar). Future of Jobs Report 2025. World Economic Forum. ISBN: 978-2-940631-90-2. https://www.weforum.org/reports/the-future-of-jobs-report-2025/.